Vielfalt kann erschlagen! Eigentlich will ich mich in der Stuttgarter Markthalle nur inspirieren lassen, was ich mir heute kochen will. Doch tauche ich dort ein in eine ganz andere Welt voller unterschiedlicher Düfte und Gerüche.
Stuttgarts Feinschmeckerparadies feiert Jubiläum: vor 100 Jahren wurde es vom Rat der Stadt beschlossen. Bis der Jugendstilbau nach den Entwürfen des Architekten Martin Elsässer fertiggestellt wurde, vergingen jedoch noch acht Jahre. Die aufgrund des Glasdachs tageslichtdurchflutete Markthalle wurde am 30. Januar 1914 eröffnet. Sie bot damals über 400 Verkaufsständen Platz. 1971 drohte jedoch wegen Unrentabilität der Abriss. Zum Glück wurde dies mit einer Stimme Mehrheit verhindert und der Bau in der Folge unter Denkmalschutz gestellt. Heute gilt die Stuttgarter Markthalle als die schönste Deutschlands, wenn nicht gar der Welt.
Die Betreiber legen Wert auf „eine große Vielfalt des Warenangebots mit Spezialitäten aus vielen Ländern“. Die Händler auf den 3.500 qm Verkaufsfläche im Erdgeschoss kommen aus rund 50 Nationen. Obst aus ökologischem Anbau, französischer Käse, Nordseefisch oder Schwarzwaldforelle: hier ist alles täglich frisch. Sogar Schalen- und Krustentiere aus dem Atlantik und dem Mittelmeer werden vom Pariser Großmarkt bezogen.
Da fällt die Auswahl schon schwer. Nicht, weil mir nichts rechtes begegnen will – im Gegenteil. Zu viele gute Ideen schießen durch den Kopf und werden sofort vom Angebot am Nachbarstand verdrängt. Am Ende eines Ganges entdecke ich eine Leuchtwerbung – ungewöhnlich für diese helle Halle. Das Angebot schaue ich mir näher an. Würstchen aus meiner hannoverschen Heimat. Sicher, es mag in diesem überbordenden Angebot an den vielen Ständen schmackhafteres, delikateres geben – doch für mich sind diese Würstchen mehr: sie verbinden mich mit meinen Wurzeln.
Der Inhaber, Horst Treuter, erzählt, dass das Geschäft vom Braunschweiger Gustav Breyer gegründet worden ist. Der Niedersachse erkannte, dass Wurstwaren aus seiner Heimat in Stuttgart gefragt waren. Auch heute ist das Angebot der Firma einzigartig mit ihren Waren aus Braunschweig und Hannover, aber auch aus Thüringen. Und die finden ihre Abnehmer: Vorrangig seien Thüringer seine Kunden, aber auch sehr viele Niedersachsen. Und seit heute ein Ex-Hannoveraner mehr. Denn hier gibt es Thüringer Mett, Bouillon- und Bregenwürstchen, dazu Grünkohl aus der Dose und: Heimatgefühle.
Ich steige die Treppe hinauf zum „besonderen Warenhaus“ von Merz & Benzing, wo Designmöbel, Literatur, Musik, aber auch ein Juwelier und ein Coiffeur ihren Platz haben. Das mag so gar nicht zu den Waren unten passen, zumal durch die offenen Durchblicke an den Seiten der Empore die Düfte und Geräusche wunderbar nach oben dringen.
Auf dem Weg nach unten setze ich mich auf die steinerne Treppe. Ich bin nicht mehr Teil derer, die sich durch die Gänge schieben, sondern Beobachter. Schaue mir von weitem die Stände an: den russischen Stand neben dem Schwyzer Stand, „Espania“ gleich gegenüber. Geografie einmal anders. Ich höre plötzlich auch das Sprachengewirr. Nicht nur die Ware ist international, die Besucher sind es auch. Am Ungarn-Stand steht ein Mann, der gar nichts zu kaufen scheint. Er redet nur mit dem Standbesitzer, sicher auf ungarisch. Und plötzlich fügen sich die Impressionen zu einem Bild. Der Schlüssel: Heimat in der Fremde. Ob meine hannöversche Wurst, die wichtige Zutat zum heimatlichen Essen oder der Schwatz mit einem ebenfalls in der Fremde lebenden Landsmann: Alles findet sich hier in der knapp 100 Jahre alten Markthalle. Halt „Savoir vivre“, Lebensart. Da fügen sich dann auch die Waren im Obergeschoss ins Bild ein. Das unterscheidet die Markthalle dann doch vom Wochenmarkt. Egal, wie das Wetter ist: Hier findet jeder sein Stückchen Heimat, seinen „Lebensmittelpunkt“. Hier in dieser Vielfalt!
(c) Jens-Erik Paul 2006für PR-Referenten-Ausbildung