Der Riese

Ökumenischer Abschlussgottesdienst des Schuljahres für die Klassen 5, 6 und 7
(direkt vor der Predigt wurde eine Kurzfassung von Oscar Wildes „Geschichte vom selbstsüchtigen Riesen“ vorgetragen)

Oscar Wilde, Geschichte vom selbstsüchtigen Riesen (Kurzfassung)

Auf dem Heimweg von der Schule spielten die Kinder immer im Garten des Riesen. Es war ein großer Garten mit wunderschönen Blumen und Bäumen und weichem Rasen. Und wenn die Kinder im Spiel innehielten, um dem Gesang der Vögel zu lauschen, dann riefen sie: „Wie glücklich sind wir hier!“

Eines Tages kehrte der Riese von einer langen Reise zurück. Als er die Kinder im Garten spielen sah, schrie er zornig: „Was tut ihr in meinem Garten?“ Er baute eine hohe Mauer ringsum und stellte das Schild auf: Betreten bei Strafe verboten!

Jetzt wussten die Kinder keinen Platz mehr, wo sie spielen konnten, denn die Straße war zu gefährlich.

Der Frühling kam. Überall im Lande blühten schon die Blumen und sangen die Vögel – nur im Garten des Riesen war immer noch Winter. Der Riese schaute in seinen eisigen Garten und schüttelte den Kopf: „Ich verstehe wirklich nicht, warum der Frühling so lange ausbleibt.“ Aber es kam kein Frühling.

Eines Morgens hörte der Riese eine liebliche Vogelstimme und er freute sich riesig. Und was sah er? Er sah etwas wunderbar Schönes!

Durch einen kleinen Spalt in der Mauer waren die Kinder hereingekrochen. Jetzt saßen sie in den Zweigen der Bäume und die Bäume waren so glücklich darüber, dass sie über und über mit Blüten bedeckt waren.

Da schmolz das Herz des Riesen. Er holte eine starke Brechstange und brach die Mauer nieder. Von nun an spielte er jeden Tag mit den Kindern in seinem schönen Garten.

Einige werden jetzt sagen: Ein schönes Märchen.
Andere werden sagen: Märchen sind doch Kinderkram.
Wieder andere vielleicht: Was hat das denn mit uns zu tun?
Ich will versuchen, auf diese Frage eine Antwort zu finden.

Kennt ihr das? Wenn man etwas schönes, wertvolles, wichtiges nur für sich hat? Es nur für sich haben will? Egal, ob dass das tolle neue Rennrad, der eigene Computer oder das Geschenk vom Freund oder von der Freundin ist… Man will es irgendwie schützen, sichern, festhalten. Man ersinnt Schlösser, Alarmanlagen oder sonst etwas, nur um es vor fremden Zugriff zu schützen. Am liebsten würde man es wohl in einen Extra Raum einschließen, möglichst eine Mauer drumrum bauen.

Das ist ja auch ganz natürlich. Denn nichts ist schlimmer, als wenn das Rennrad gleich einen Knacks in der Gangschaltung bekommt, der Computer abstürzt oder das Geschenk irgendwie kaputt geht, nur weil ein anderer es in die Finger bekommen hat. Mauern können also schützen! Früher hat es ja auch Stadtmauern gegeben, genau aus diesem Grund. Auch heute noch findet man um viele Grundstücke und Häuser eine Mauer, manchmal sogar richtig hoch, so dass das Eigentum dahinter geschützt ist vor dem, was da draußen so rumläuft. Man will selbst bestimmen, wer durch das Tor in der Mauer in das Innere hineindarf und wer nicht.

Oftmals sind es ja die schlechten Erfahrungen, die man macht, die einen dazu bewegen, Schutzmaßnahmen aufzubauen. Erst wenn das Fahrrad geklaut ist, merkt man, dass Schlösser doch manchmal notwendig sind.

In der Geschichte, die wir eben gehört haben, ist es ganz genauso. Der Riese schützt sein Eigentum. Es muss ein schöner Garten sein, den er da hat. Blumen, Rasen und viele Vögel. Eine richtige Oase voller Ruhe und Frieden. Da ist es sicher ganz schön, am Nachmittag in der Sonne zu liegen, Ruhe zu haben und sich der Natur zu erfreuen. Und was passiert? Kaum ist der Besitzer dieses Gartens mal nicht da, schon kommen irgendwelche dahergelaufenen Kinder und machen sich dort breit. Nichts ist es mehr mit der Ruhe und dem Frieden. Und warum das Ganze? Nur weil der Garten eben völlig ungeschützt frei zugänglich war. Das muss sofort geändert werden. Verbotstafeln, Schlösser, MAUERN! Raus mit den Ruhestörern aus dem Eigentum des Riesen!

Jetzt herrscht wieder Ruhe und Frieden in dem Garten. So, wie man sich das vorstellt und so, wie es sein soll. Jetzt kann der Riese wieder selbst bestimmen, was in seinem Garten passiert.

Manchmal denke ich, dass wir alle das nicht viel anders machen. Auch wenn wir keinen Garten haben, der vor dem Zugriff der Kinder geschützt werden soll. Und ich meine jetzt auch nicht das Rennrad oder den Computer. Nein, ich denke, dass es noch etwas gibt, was wir gern vor fremden Zugriff schützen wollen. Ich meine unsere Gefühle. Egal, ob das die komischen Gefühle sind, wenn man Neu in eine Schule und Klasse kommt, ob dass die Trauer ist über eine zerbrochene Freundschaft oder vielleicht das Gefühl des Herzrasens und totaler Begeisterung, das einen überkommt, wenn ein ganz bestimmter Mensch – meist des anderen Geschlechts – den eigenen Weg kreuzt. Kurz: die Liebe! Solche Gefühle, so stark sie auch sind und so sehr sie uns beeinflussen, solche Gefühle lassen wir nur sehr vorsichtig und eigentlich gar nicht aus uns raus. In einem Lied von Gerhard Schöne heißt es (hier über Jungs – aber Mädchen sind da – glaube ich – nicht viel anders): „Wenn sie ein Mädchen lieben, braucht die es nicht wissen!“

Wir bauen Mauern um uns, um unsere Gefühle. Äußerlich möglichst unverändert bleiben – neudeutsch: cool! – und die Gefühle nur innen behalten. Im ersten Moment ist das auch ein sehr nützliches Mittel. Doch wenn das Mädchen nicht erfährt, dass es geliebt wird, dann… tja, dann klappt es nicht mit der Freundin.

Aber warum bauen wir solche Mauern? Eigentlich wäre dass alles doch so einfach. Neu an der Schule sind doch viele. Und denen geht es doch genauso wie mir. Mit denen könnte ich doch reden. Freundschaften schließen. Gemeinsam lernen. Nebenbei: Ich hab es doch auch durch, ich hab es doch auch erlebt. Ich hab ja auch neu an dieser Schule als Lehrer angefangen. Oder das Ding da mit den komischen Gefühlen… Liebe genannt. Eigentlich bräuchte ich doch nur zu ihr hinzugehen und zu sagen: „Du, ich glaub ich mag dich sehr“ oder so was in der Art. Aber … naja, was ist, wenn Sie sagt: „Ich dich aber überhaupt nicht!“ Das tut dann weh. Und wer lässt sich schon gern wehtun? Darum sagen wir es einfach gleich gar nicht ehe wir verletzt werden. Wir mauern unsere Gefühle ein, dann kann ihnen nix passieren.

Im Garten ist der Riese jetzt allein. Und er ist Glücklich. Alles ist wieder in Ordnung. Denkt er. Doch im Laufe der Zeit merkt er etwas. Etwas ist anders als sonst. Wo bleibt der Frühling? Immer noch ist es eisig in seinem Garten. Er merkt auch nicht, dass es draußen, vor seiner Mauer, im richtigen Leben, schon längst Frühling ist. Denn er sitzt ja nur innerhalb seiner Mauern. Er merkt nur, dass ihm etwas fehlt: Die Sonne, die Wärme, die Vögel, die Blumen… Sprich alles, was den Frühling ausmacht. bei ihm ist immer noch Winter…

So ist das manchmal auch bei uns. Weil wir uns einigeln in unsere Mauern und unsere eigenen Gefühle schützen wollen, darum bekommen wir gar nicht mit, was draußen um uns herum passiert. Wir warten, dass da von draußen etwas kommen muss, wie der Riese wartet, dass endlich der Frühling in seinen Garten kommt. So warten wir, dass jemand zu uns kommt, hinter die Mauer. Aber wie denn? Da steht doch ein Schild: „Betreten bei Strafe verboten!“

Dieser Gottesdienst steht unter dem Motto: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen“. Dieser Text stammt aus dem zweiten Buch des Samuel. Dort wird davon berichtet, wie König David seinem Gott dankt an dem Tag, als ihn der Herr aus der Gewalt all seiner Feinde und aus der Gewalt Sauls errettet hatte. Also ein richtiger Kampf wird da beschrieben. Da ging es richtig hoch her. Doch Gott hat David errettet. „Er führte mich hinaus ins Weite, er befreite mich, denn er hatte an mir Gefallen“, heißt es da. Und eben: „Mit dir erstürme ich Wälle, mit meinem Gott überspringe ich Mauern“. Wow, dass hört sich gut an. Das könnte doch was sein, was mir weiter helfen kann. Einfach die Mauern überspringen, die Wälle zerschlagen! Einfach weg damit! Doch Halt! Moment – die Mauern waren doch eigentlich zum Schutz gedacht…?! Zum Schutz meines Eigentums. Zum Schutz meiner Gefühle!

Schauen wir uns noch mal den Riesen an. Der lebt hinter seiner dicken Mauer. Und er lebt eigentlich ganz gut. Keine nervenden Kinder. Allein und irgendwie wohl auch eigentlich glücklich. Nur, naja, dass Ding da mit dem Frühling, okay, das stört, da fehlt einfach was. Aber sonst… Nee, die Mauer ist schon in Ordnung so. Und auf den Frühling hat er ja sowieso keinen Einfluss. So denkt der Riese. Er merkt nämlich nicht, WARUM der Frühling ausbleibt. Er merkt ja noch nicht mal, dass überall schon Frühling ist, außer in seinem Garten. Es ist nämlich nicht alles in Ordnung mit der Mauer. Er igelt sich ein und bemerkt seine Umwelt gar nicht mehr. Und es würde wohl heute noch ganzjährig bei ihm Winter sein, wenn nicht… ja, wenn nicht etwas von außen gekommen wäre: In diesem Fall waren es die Kinder, die gern wieder in diesem Garten spielen wollten, der gar nicht ihr Garten war.

Aber sie wissen, was hier Not tut: Spielende, lachende, fröhliche Kinder. Und das tut nicht nur für den Garten not. Für den Riesen ist das genauso wichtig, auch wenn der das noch gar nicht bemerkt hat. Die Kinder finden ein kleines Loch, einen Spalt. Sie finden den Weg hinein in den Garten, der eigentlich doch fest ummauert ist.

Und jetzt merkt es auch der Riese: Das war es, was fehlte. Das Lachen der Kinder. Das war es, was falsch war: die Mauer um seinen Garten, die Mauer um sich. Er riss sie ab und spielte mit den Kindern.

Und so kann es auch mit Gott sein: Es kann sein, dass man selbst den Weg nach draußen neu suchen muss. Dass man mit Gott über die eigenen Mauern springen will. Und Gott hilft einem. Ganz sicher! Man muss nur Vertrauen wagen. Es kann aber auch sein, dass „die da draußen“ den Weg nach drinnen suchen und ihn mit Gottes Hilfe auch finden. Auch darauf können wir vertrauen. Denn Gott steht zu uns. „Er führte mich hinaus ins Weite, er befreite mich, denn er hatte an mir Gefallen“!

Amen

(c) Jens-Erik Paul 1999